Translated into German by Dorothea Richey
Im Allgemeinen neigen wir dazu, zu denken, dass unser Leben mit unserer Geburt beginnt. Unser Geburts-Tag ist der Tag, den wir jedes Jahr feiern. Und doch gibt es davor ganze neun Monate, in denen wir bereits gelebt haben, die wir aber selten in Betracht ziehen. Tatsächlich beginnt unser Leben mit unserer Empfängnis. Das ist der Tag, den wir wirklich feiern sollten, aber für gewöhnlich wissen wir wenig über diesen Tag. Unsere Mutter weiß womöglich nicht einmal, wann wir empfangen wurden. *
In der Identitäts-orientierten Psychotrauma Therapie sehen wir die Zeit, die wir im Bauch unserer Mutter verbringen, als entscheidende Zeit der Identitätsentstehung, oder Identitäts-Zerstörung. Daher nennen wir unsere Therapie Identitäts-orientierte Therapie. In dieser Zeit entsteht unsere erste, wichtigste Beziehung, die mit unserer Gastgeberin, unserer Mutter. Während dieser Zeit, während Schwangerschaft, Geburt und der ganz frühen Zeit nach der Geburt ist sie unsere Welt, unsere Nahrungsquelle, das Zuhause, in welchem wir wachsen und uns entwickeln, das einzige Zuhause, das wir kennen.
In der Identitäts-orientierten Psychotrauma Therapie wissen wir, wie wichtig diese Lebenszeit ist und wie vieles, was während dieser Zeit geschieht, unsere Fähigkeit zu einem selbstbewussten gesunden Erwachsenen zu werden beeinflusst.
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Erst kürzlich habe ich verstanden, welch schreckliche und selbst-ablehnende Haltung viele Menschen unbewusst in sich tragen. Zunächst werde ich das Identitätstrauma erforschen und erläutern. (weitere Literatur zum Thema: Franz Ruppert - Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? / Vivian Broughton – Zurück in mein Ich)
Nach meiner Erfahrung aus der Arbeit mit Klienten ist das Identitätstrauma nahezu immer ein vorgeburtliches Trauma, welches in den allerersten Stadien der Beziehung von Mutter und Baby auftritt.
Wenn die Mutter in ihrer eigenen Psyche klar ist, überwiegend Zugang zu ihrer gesunden Psyche hat, d.h. sie hat selbst keine schwerwiegenden Traumata erlitten, kann sie ihr ungeborenes Kind als ein einzigartiges und eigenständiges Individuum mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen, die anders sind als ihre, erkennen. Das ist die Basis für einen gesunden Start für das Kind, wobei es seine eigene Identität und Autonomie entwickeln kann, ohne seine Psyche spalten zu müssen.
Nach meiner Erfahrung kommt dies selten vor. Häufiger gibt es die Situation, dass die Psyche der Mutter aufgrund ihrer eigenen frühen Traumatisierung gespalten ist. Das Resultat ist, dass ihre Wahrnehmung der Realität nicht klar ist, und ihre Gründe, ein Baby zu haben, nicht einfach sind. Sie sieht ihr Kind nicht als eigenständiges, einzigartiges Individuum mit einer eigenen Identität, sondern eher als eine Erweiterung ihrer Person. Sie neigt dazu, das Baby zu einem Objekt zu machen, es nicht als das Subjekt seines eigenen Lebens zu sehen, sondern es zum Objekt ihrer eigenen Befriedigung, ihres eigenen Nutzens zu machen.
Vielleicht bekommt sie ein Baby, aufgrund von Erwartungen, dass sie Mutter werden soll; möglicherweise ersetzt das ungeborene Kind ein früheres, durch Fehlgeburt verlorenes Kind.
Vielleicht hat sie ein Kind im Versuch ihre Ehe zu retten; oder die Mutter erwartet von ihrem Kind ihr die Liebe zu geben, die sie selbst von ihrer Mutter nicht bekommen hat; oder sie sieht das Kind unbewusst als eine Quelle ihrer Erfüllung und Befriedigung. Es gibt viele Gründe, warum Frauen Kinder haben, Kind wollen, aber oft aus verwirrten unbewussten Motiven heraus, hauptsächlich um ihre eigenen enttäuschten und unerfüllten Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.
Wird das Kind nicht als es selbst gesehen, als einzigartiges Lebewesen mit Wünschen und Bedürfnissen, die nicht die Wünsche und Bedürfnisse seiner Mutter sind, so wird es gezwungen seine Psyche zu spalten, sein eigenes gesundes wollendes Ich abzuspalten. Dies ist das Identitätstrauma. Das Kind ist hilflos und abhängig von der Mutter; im Mutterleib ist es sie… es kann nicht getrennt von ihr sein; stirbt sie, stirbt es. Es kann nichts für sich selbst tun; seine Abhängigkeit ist seine Existenz. Hilflosigkeit ist der Grundzustand von Traumatisierung, und während sich die Beziehung zwischen Kind und Mutter im Mutterleib entwickelt, ist das Kind hilflos und von dieser Beziehung vollkommen abhängig, was sein Leben und Überleben betrifft.
Akzeptiert oder respektiert die Mutter die Wünsche ihres Kindes nicht, ist es gezwungen diese aufzugeben, sein gesundes Ich, seine Identität abzuspalten, seine fragilen, eben entstehenden Keime von Autonomie aufzugeben. Seine einzige Überlebenschance besteht darin, sich mit den Bedürfnissen und Wünschen seiner Mutter zu identifizieren, sich ihr anzupassen, sich mit ihr zu identifizieren.
In diesem frühen Stadium im Mutterleib wird die Beziehung festgelegt; das Selbst der Mutter dominiert; sie sieht ihr Kind durch den Schleier ihrer Überlebensimpulse, ihrer verwirrten Wünsche, und nicht klar aus ihrem gesunden Selbst. Es mag Momente von gesunder Verbindung zwischen Mutter und Kind geben, jedoch nur kurzzeitig. Ihre Wünsche und Bedürfnisse haben Vorrang vor denen des Kindes, und das Kind kann nichts dagegen tun. All dies findet statt, bevor das Kind auch nur beginnt, die Neo-Cortex-Struktur des Gehirns zu entwickeln, den Teil, der im Laufe der folgenden Jahre die Fähigkeit entwickelt nachzudenken und zu verstehen. Während der Schwangerschaft sind der Hirnstamm (Reptiliengehirn) und das limbische, nicht-verbale Gehirn (emotionales oder Säuger-Gehirn) die einzig aktiven Gehirnstrukturen. Das bedeutet, dass das Kind keine intellektuelle Erinnerung an die frühen Ereignisse hat, keinen Zugang hat zu der Erfahrung (obwohl es sie gibt), und so geht diese im Unbewussten verloren.
Das Kind wächst auf, programmiert-identifiziert mit Wollen und Wünschen seiner Mutter, dann vielleicht mit denen seines Vaters, seiner Lehrer, seiner Freunde, seiner Vorgesetzten usw. Schließlich wird es unbewusst sehr geübt darin sein, die eigene Identität auszulagern an andere. Sogar an Gruppen wie Gleichaltrige, Pop Idole, einen Sportverein, eine Nation, eine politische Partei oder Bewegung.
Es weiß nicht, was es wirklich will. Sein eigener Wille wurde abgelehnt, schlecht gemacht, ignoriert und als unwichtig abgetan, und das Kind hat sich so daran gewöhnt, dass es dies niemals in Frage stellt. Alles, was es weiß, ist, dass es die Wünsche anderer vor seine eigenen zu stellen hat, sich um andere statt um sich selbst zu kümmern hat, selbst leiden und sich gleichzeitig mit dem Leiden anderer befassen soll. Etwas anderes zu tun wird als selbstsüchtig und würdelos betrachtet. Eigene Wünsche zu haben ist schockierend, ein Verbrechen, oder einfach nicht bewusst möglich. Ich bin stets verblüfft, wie viele Menschen die Frage „Was willst du?“ nicht beantworten können, die Frage vermeiden, sie nicht einmal hören als einen zulässigen Teil von Kommunikation.
Dies sind die Langzeitfolgen des Identitätstraumas. Die Überlebensstrategie eines Identitätstraumas ist die Identifikation mit den Wünschen und Bedürfnissen anderer, und eine Ablehnung des Selbst.
Catch 22 Dilemma – das ungewollte, zurückgewiesene Kind
Was geschieht nun, wenn das Kind von der Mutter tatsächlich ungewollt ist und emotional zurückgewiesen wird? Dies setzt eine unmögliche Dynamik in Gang, welche schließlich zu einer überwältigenden Bedrohung wird, vielleicht sogar zu einer Lebensbedrohung.
Es gibt zahlreiche Gründe, warum eine Mutter ihr Kind nicht will:
- Die Mutter will nicht schwanger werden und ein Kind haben.
- Die Schwangerschaft war ein Fehler.
- Die Empfängnis geschah gewaltsam, durch Vergewaltigung.
- Die Empfängnis war bedrohlich, unangenehm, langweilig, gefühllos.
- Die Empfängnis wurde als Pflicht gesehen.
- Die Mutter hasst den Vater.
- Die Schwangerschaft ist unangenehm und der Mutter ist oft übel.
- Die Mutter hat zwiespältige Gefühle in Bezug auf das Thema Kinderhaben.
- Die Mutter hat Angst vor Schwangerschaft und Geburt.
- Der Mutter wurden viele erschreckende Dinge über das Kinderhaben berichtet.
- Aufgrund ihres eigenen Kindheitstraumas ist die Mutter im psychologischen Sinne noch ein Kind und sieht ihr Kind als Rivalen für die Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse.
- Die Mutter betrachtet das Kind als Belästigung, als etwas, das ihre Ressourcen auslaugt und Möglichkeiten einschränkt.
- Die Mutter leidet vielleicht unter ihrem eigenen Trauma, von ihrer Mutter nicht gewollt, oder sogar gehasst worden zu sein.
- Sie mag unbewusst ihr Kind als jemanden sehen, der schwächer ist und an dem sie sich endlich für ihre eigene Opferwerdung rächen kann.
- Wurde die Mutter als Kind misshandelt oder missbraucht, könnte sie ihr ungeborenes Kind als potenziellen Täter betrachten.
- Aus vielen Gründen könnte die Mutter ein Kind des anderen Geschlechtes vorziehen, und das Kind, so wie es ist, nicht wollen.
- ...
Es kann passieren, dass eine Mutter ihr ungeborenes Kind hasst, dass sie dessen Tod oder eine Fehlgeburt wünscht, oder sie denkt über eine Abtreibung nach, oder sie versucht tatsächlich abzutreiben. Wenn die Abtreibung erfolgreich ist, war es das; oft aber scheitern Abtreibungen und dies hat massive Folgen für die zukünftige Beziehung zwischen Mutter und Kind, auch wenn das Kind keine bewusste Erinnerung an dieses Trauma hat. Das unausgesprochene Thema besetzt den Platz zwischen Mutter und Kind, zusammen mit Groll oder Schuldgefühlen, die die Mutter dem Kind gegenüber haben mag.
All diese bewussten und unbewussten Haltungen der Mutter ihrem Kind gegenüber beeinflussen die aufkeimende Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind, das sie in sich trägt. Die beiden können nicht keine Beziehung haben, das ist unmöglich. Das Kind im Mutterleib ist zu einem großen Teil ein physischer und emotionaler Teil der Mutter; die Mutter füttert das Kind physisch und emotional. Das Kind kann nicht zurückweisen, womit es gefüttert wird, oder irgendeinen Teil der Mutter. Auch wenn die Mutter das Kind emotional ablehnt, kann das Kind die Mutter nicht ablehnen. Sein Leben und seine Existenz hängen von ihr ab. Das Kind braucht seine Mutter, um zu überleben. Außerdem liebt es sie, und was geschieht angesichts ihrer Ablehnung mit seiner Liebesfähigkeit, seinem Verstehen von Liebe, wenn es älter wird?
Das Fazit ist, dass das mütterliche Nicht-Wollen des Kindes und die mehr oder minder bewusste Erfahrung des Kindes nicht gewollt zu sein, beider Beziehung unmerklich beherrscht und bestimmt, lebenslang. Anders ausgedrückt: die Mutter wird zu einer gefährlichen Täterin an ihrem Kind, und das Kind könnte sein Leben im Opferdasein verbringen, da dies die einzige Beziehungsform ist, die es kennt.
Täter-Opfer Mutter-Kind
So entwickeln Mutter und Kind eine Täter-Opfer-Beziehung anstatt einer gesunden Beziehung. Die Mutter fühlt sich als Opfer ihres ungewollten Kindes, und in ihrer Ablehnung und in ihren verwirrten Gefühlen ihrem Kind gegenüber wird sie zur Täterin an ihrem Kind. Das hilflose Kind ist dann ein echtes Opfer, und es ist vollkommen abhängig von der Täterin Mutter.
Ein Identitätstrauma ist unvermeidlich, und um dieses zu überleben, spaltet das Kind seine Psyche und ist gezwungen, sein eigenes gesundes wollendes Ich aufzugeben und sich mit seiner Täterin Mutter zu identifizieren, und mit deren Wollen.
Doch diese will das Kind nicht; sie will, dass das Kind nicht existiert. Was tut das Kind nun? Die einzige, paradoxe Option besteht darin, sich dem Wunsch der Mutter, dass das Kind nicht existieren soll, anzupassen; und bestimmt durch den Willen, dass das Kind nicht leben soll, wird dessen Lebensdrang gebremst und zum Erlöschen gebracht.
Selbst-Ablehnung; Täterschaft an sich Selbst
Die Identifikation des Kindes mit den mütterlichen Wünschen als eine Überlebensstrategie heißt, dass es sich mit dem Hass und der Ablehnung seiner Mutter identifizieren muss. Dies erschafft eine unmögliche innerliche psychologische Dynamik von Selbst-Hass, Selbst-Verneinung und Selbst-Misshandlung; das Kind verinnerlicht seine Täterin Mutter und wird zum Täter an sich selbst, es ignoriert sein eigenes Wollen und Wünschen und setzt es herab, unterwirft seinen eigenen Willen dem seiner verinnerlichten Täterin Mutter.
Gleichzeitig fühlt sich das Kind ständig hilflos und verletzbar, und nutzt vielleicht seine Hilflosigkeit und Verletzbarkeit als Überlebensstrategie, um das gemeinsame Leben zu bewältigen. Das Ergebnis ist ein Nicht-Leben, ein Leben in konstanter Selbstsabotage und Erfolglosigkeit, und wahrscheinlich werden diese Täter-Opfer-Dynamiken der Kindheit in allen Beziehungen wiederholt. Der innere Konflikt zwischen den Bestrebungen des gesunden Ich, welches nach einer traumatischen Abspaltung immer potenziell zur Verfügung steht, und den Aktivitäten des Überlebens-Ichs, welches in diesem Fall die verinnerlichte Täterin ist, beherrscht das Leben der Person. Es kann kein authentisches eigenes Leben geben; es kann nur eine endlose Wiederholung der frühen vorgeburtlichen Beziehungsdynamiken geben.
Identifikation kontra Beziehung...
Identifikation ist die primäre Überlebensstrategie bei Identitätstrauma. Das Kind ist gezwungen, sich mit den Wünschen und Bedürfnissen der Mutter zu identifizieren und wird erwachsen, indem es sich ausschließlich in der Identifikation mit den Wünschen und Bedürfnissen anderer erkennt, durch die Spiegelung und Wahrnehmung anderer.
Es ist wichtig zu erkennen, dass dies nicht Beziehung ist. Identifikation ist etwas völlig anderes als mit einer anderen Person in einer echten Beziehung zu sein. Identifikation bedeutet, dass ich meine Identität in die Augen einer anderen Person projiziere, die Wahrnehmung des anderen wird zu meiner Identität. So ist echte Beziehung unmöglich. Echte Beziehung kann nur aus einem starken gesunden Ich entstehen, und ein starkes gesundes Ich ist im Besitz seines wollenden Ich, welches sich ergibt, wenn man sich mit dem eigenen Identitätstrauma befasst.
Die Lösung
Es muss eine Lösung geben, und es gibt eine. Es muss nicht auf diese Weise sein, doch zu Beginn der Reise zur Heilung einer solch zerstörerischen verinnerlichten Beziehung mit sich selbst steht das Wissen darüber, das Sehen, das Anerkennen, die Fähigkeit zu sagen: Ja, ich bin ein Täter/eine Täterin an mir selbst, und meine Mutter hat mich nicht gewollt.
Wir nennen dies die Pflicht, unser frühes Trauma ernst zu nehmen. Es ist eine interessante Idee, aber selbstverständlich sind wir längst darauf programmiert, solch ein Ansinnen zu vermeiden. Wir brauchten unsere Mutter, und uns selbst zu erlauben, sie als Täterin zu sehen, in uns selbst zu wissen, dass sie uns nicht wollte - wenn dies der Fall ist - ist in der Tat schmerzhaft. Die Reise anzutreten, das Thema ernst zu nehmen bedeutet tiefen Schmerz, und wird wahrscheinlich Gefühle von Schuld, Illoyalität und Betrug an unserer Mutter hervorrufen; aber der wirkliche Betrug war selbstverständlich ihr Betrug an uns.
Es braucht Zeit, das Konzept unseres Identitätstraumas ernsthaft in eine Erfahrungsrealität zu übertragen. Viele Schritte sind nötig, viele “Intentionen”, viele Erforschungen mit der Methode, aber jeder Schritt, jede Intention nährt den nächsten Schritt und die nächste Intention. Jeder Schritt befreit uns langsam, aber sicher von diesem allgegenwärtigen und lebensbestimmenden Trauma. Jeder Schritt schärft unsere Wahrnehmung darüber, wie sehr wir uns selbst aufgegeben haben; jeder Schritt stärkt unser gesundes Ich; und langsam aber sicher erlaubt es uns, der Realität dieses Traumas zu begegnen, herauszufinden, wer wir wirklich sind und eine neue, ehrliche und echte Art der Beziehung mit uns selbst einzugehen, befreit von der Notwendigkeit sich mit anderen identifizieren zu müssen, um uns selbst zu kennen.
*Im Allgemeinen beträgt die Zeitspanne zwischen Empfängnis und Geburt 255 bis 275 Tage. Will man den Empfängnis-Tag feiern, so rechnet man von seinem Geburtstag zurück zu einem Datum, welches passend erscheint.
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