Wie immer danke ich Dorothea Richey für ihre hervorragende Übersetzung dieses Blog-Stücks zur Retraumatisierung.
Trauma als zentrales Thema unserer Arbeit bedeutet, dass wir die Dynamik und die Vorgänge von Trauma verstehen müssen, einschließlich des Phänomens, das als Retraumatisierung bekannt ist. Weil Retraumatisierung in unserer Arbeit als Trauma-Therapeuten vorkommen wird, müssen wir genau wissen, wovon wir sprechen und was von uns in diesem Moment gefordert sein wird.
Dieses Essay wird sich mit fünf Dingen beschäftigen:
1. So exakt wie möglich definieren, was Retraumatisierung ist;
2. Verstehen, welchen Platz sie in unserer Trauma-Arbeit einnimmt;
3. Unsere Ansichten über Retraumatisierung anschauen;
4. Handlungsmöglichkeiten, die der retraumatisierten Person helfen können;
5. Einige Gründe ansehen, warum eine Retraumatisierung in unserer Arbeit geschehen könnte.
Was genau ist Retraumatisierung? Wir benutzen den Begriff möglicherweise viel zu leicht und viel zu häufig; in gleicher Weise wie die Worte „Trauma“ und „Missbrauch“, deren Gebrauch sich ohne eindeutige Definition, die beschreibt, wovon wir sprechen, verbreitet hat.
Ich sollte an dieser Stelle sagen, dass ich das, was ich zu diesem Thema darlege, vorwiegend entwickelt habe aus meiner etwa dreißigjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin, und aus den zwölf Jahren, in denen ich mich in die Psychotrauma-Theorie und Therapie, die Franz Ruppert entwickelt hat als Identitäts-orientierte Psychotrauma Therapie (IoPT) vertieft habe. Ich kann darüber hinaus nicht viel Nützliches zu diesem Thema finden. Daher betrachten Sie dies bitte als work in progress, und teilen Sie bitte Ihre eigenen Gedanken und Erfahrungen mit in Ihren Kommentaren am Ende des Artikels. Vielleicht können wir gemeinsam ein Verständnis von Retraumatisierung entwickeln, das Praktizierenden erlaubt mit größerem Vertrauen und in Stabilität mit Trauma zu arbeiten. Es ist ein recht langer Artikel geworden, weil zu Beginn so viele Gedanken, verstandene und weniger verstandene, aus meiner Erfahrung auftauchten.
Für den Anfang fasse ich kurz zusammen, was gemeint ist, wenn wir den Begriff „Trauma“ in IoPT verwenden.
Was ist Trauma?
Trauma ist:
1. Eine Situation, in der die traumatisierte Person vollkommen hilflos ist und überwältigt wird von den herrschenden Kräften. Im Beziehungstrauma (im Gegensatz zu Natur-Traumen wie Erdbeben oder Überflutung etc.) bedeutet dies, dass eine Person, der Täter, alle Macht hat und die andere, das Opfer, keine.
2. Hochbelastungs-Ressourcen und Strategien – Kampf und Flucht – sind nicht möglich, denn wer kämpfen oder flüchten kann, ist nicht vollkommen hilflos.
3. Die Situation wird erlebt als eine Leben-oder-Tod Situation: die Person erlebt sich in Todesangst, in diesem Moment steht ihr nacktes Überleben auf dem Spiel.
4. Das psycho-physische System muss sich spalten, um mit der Erfahrung fertig zu werden. Im ersten Moment ist das Spalten eine Dissoziation von der unerträglichen realen Erfahrung, und dies wird im Laufe der Zeit eine wachsende strukturelle und konkrete Spaltung. Diese lässt sich in folgendem Symbol darstellen:
Das Überlebens-Ich ist ein Trauma-Überlebens-Anteil, dessen einzige Funktion darin besteht, die Person vor dem abgespaltenen Trauma-Erlebnis zu schützen, es aus dem täglichen Bewusstsein heraus zu halten. Diese Trauma-Erfahrung wird zum Zeitpunkt des Geschehens tatsächlich kaum erlebt; sie wird abgeschnitten, bevor die gesamte Erfahrung und die emotionale Entladung stattfinden können. Sie sitzt dann als unverarbeitetes und unerfülltes Element im psycho-physischen System; sie kann nicht verarbeitet werden, steht aber wie der sprichwörtliche Elefant immer im Raum.
Das Psycho-Physische
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Trauma-Erfahrung eine Erfahrung der Psyche ist (von Geist und Emotionen) und der Physis, des Körpers. Während ein Trauma vom Standpunkt eines außenstehenden Beobachters mehr wie ein körperliches Trauma aussehen mag, zum Beispiel bei einem schweren körperlichen Angriff, oder wie ein psychologisches Trauma, zum Beispiel bei nachlässiger und liebloser Haltung einer Mutter, so geschehen doch alle Traumen für die Gesamtheit von Körper und Geist, und die entstandene Spaltung betrifft ebenfalls Geist und Körper. Körpertherapeuten, die empfänglich sind für physische Zustände, werden feststellen, dass ein Teil des Körpers gefühllos ist, oder besonders angespannt, verkrampft, auf Behandlung nicht anspricht etc.
Der Prozess der Spaltung
Um Retraumatisierung zu verstehen besteht der erste Schritt darin, zu erkennen, dass es immer einen inneren Konfliktprozess innerhalb einer Person gibt: die Trauma-Erfahrung dringt ständig darauf zum Abschluss zu kommen; sie will erfahren werden und die Erlaubnis haben, sich vollständig auszudrücken, während die „Überlebensanteile“ alleinig den Zweck verfolgen, die Funktion haben, dies zu vermeiden. Das „Gesunde Ich“ drängt auch auf Ganzheit, auf Abschluss; denn das ist, was Gesundheit ist, und in diesem Sinne befindet sich das „Gesunde Ich“ im Konflikt mit dem „Überlebens-Ich“, gleichzeitig jedoch kann dieser Anteil nur als gesundes Element funktionieren, weil das „Überlebens-Ich“ die Spaltung aufrechterhält. Um tagtäglich zu funktionieren braucht das „Gesunde Ich“ das „Überlebens-Ich“, das es davor schützt von der ungelösten Trauma-Erfahrung überwältigt zu werden.
Mit diesem Verständnis könnte unser erstes Prinzip für eine Definition von Retraumatisierung sein:
Das “Überlebens-Ich“ versagt darin, die Grenzen aufrechtzuerhalten und das „Gesunde Ich“ davor zu schützen von der unverarbeiteten Trauma-Erfahrung überwältigt zu werden.
Der Alltag
Unser Alltag ist ein ständiger Beziehungs-Prozess zwischen den drei unterschiedlichen Elementen unseres Selbst, wenn wir durch die Spannungen und den Stress unseres Tages navigieren.
Unsere körperlichen Sinne sind unser wesentliches Kontaktorgan in unserer Welt: hören, sehen, riechen, anfassen, schmecken. Dies ist die Art und Weise, in der wir unsere Welt erfahren, während unsere innere Verarbeitung dieser Informationen, und die Bedeutung, die wir daraus schließen, beeinflusst ist durch die Art unserer Wahrnehmung.
Unsere Wahrnehmung, und damit unsere Reaktion auf unsere Welt, wird von vielen, vielen Dingen beeinflusst; einschließlich angesammelter Vorurteile, Neigungen, der Natur unserer frühen Beziehungen, unseres Identitätstraumas und unserer Fähigkeit zu fühlen und geliebt zu werden von unseren Eltern oder nicht – in der Tat unsere Verzerrungen der Realität, die sich im Laufe unseres Lebens angesammelt haben.
Und unsere Reaktionen auf diese sensorischen Informationen erfolgen in Form von Emotionen: Wut, Freude, Trauer, Liebe, Angst, Schrecken, Traurigkeit. Die Handlungen in unserem Leben resultieren stets aus unseren emotionalen Reaktionen auf Sinneswahrnehmungen. Doch diese emotionalen Reaktionen werden immer beeinflusst von der Prozess-Beziehung zwischen „Überlebens-Ich“, „Trauma-Ich“ und „Gesundem Ich“, d. h. von unserem Trauma. Vielleicht ist es schockierend zu erkennen, dass all unsere Entscheidungen im Leben, sogar die, von denen wir denken, sie seien rein rational, vornehmlich auf emotionalen Reaktionen (Bauchgefühl) auf unsere Wahrnehmungen und auf unseren inneren Realitäts-Verzerrungen basieren, die das Resultat von Trauma sind.
So wird bei einer schwer traumatisierten Person, deren „Überlebens-Ich“ rigide Kontrolle ausübt und die Grenzen gegenüber Emotionen, die uns verletzlich machen (Liebe, Mitgefühl, Freude etc.) verbannt oder verhärtet hat, die Reaktion auf die meisten externen Geschehnisse in Aggressivität, Lieblosigkeit und Mangel an Empathie und Mitgefühl bestehen, weil sie befürchtet, dass das Fühlen dieser Emotionen das Auftauchen der Trauma-Gefühle erlauben könnte.
Chaos und Rigidität als Überlebensformen
Hier erwähnenswert sind zwei unterschiedliche Formen von Trauma-Überlebensmustern, definiert von Dan Siegel (Klinischer Professor für Psychiatrie an der Universität von Kalifornien, Los Angeles und Direktor des Mindsight Institute) als Rigidität und Chaos.
Hinsichtlich IoPT verstehe ich dies so, dass abhängig von den uns als Baby umgebenden Möglichkeiten (unsere familiäre Kultur) unser Trauma zu überleben, unsere Überlebensmuster entweder zu einer mehr rigiden, kontrollierenden Form oder zu einer eher chaotischen und unkontrollierten Form tendieren, und bei einigen Menschen gibt es ein Schwanken zwischen Rigidität und Chaos.
Die rigide Form verlangt ein hohes Maß an Kontrolle und Desensibilisierung, um das Trauma im Unbewussten zu halten, dagegen ist die chaotische Form unkontrolliert und nutzt stattdessen Emotionalität und chaotisches Verhalten, um vom Trauma abzulenken. Die rigidere Form erlaubt wenig reale Emotion, wohingegen die mehr chaotische Form „Überlebens-Emotionen“ nutzt, um sich gegen die realen Trauma-Emotionen zu verteidigen.
Limbische Resonanz
Eine andere Art uns mit der externen Welt zu verbinden, stammt vor allem aus unserer limbischen Gehirnregion: es scheint, dass wir unbewusst viel mehr miteinander verbunden sind als wir wahrnehmen durch das, was als „limbische Resonanz“ bekannt ist. (Lewis, Amini und Lannon, 2001).
Im ersten Bindungsprozess zwischen Mutter und Kind befähigt beider limbisches Gehirn (auch bekannt als Säugerhirn) sie miteinander zu kommunizieren, zu resonieren und zu synchronisieren. Dies dient der Sicherheit und dem Überleben des Kindes. Diese Fähigkeit weniger bewusst mit denjenigen um uns herum in Resonanz zu gehen, dauert an bis ins Erwachsenenalter. Sie liegt der Repräsentanz-Erfahrung in der Anliegen-Methode, die wir in IoPT nutzen, um unser Trauma zu verstehen, zugrunde.
Es ist also wahrscheinlich, dass manche der Informationen, die wir von unserer Umgebung wahrnehmen, auf unsere Fähigkeit der limbischen Resonanz zurück zu führen sind.
Spiegelneuronen
Spiegelneuronen (Rizzolatti & Craighero, 2004) sind ebenfalls ein bedeutsamer Weg, durch den wir kontinuierlich mit unseren Mitmenschen in Kontakt sind. Der Spiegelneuroneneffekt ist im folgenden Zitat gut zusammengefasst:
“Wir alle haben Momente erlebt, in denen wir uns berührt fühlen – nicht weil uns etwas geschehen ist, sondern weil jemand anderem etwas geschehen ist.“ (Keysers, 2011 in Broughton, 2013)
Spiegelneuronen erlauben uns, uns in das Erleben anderer einzufühlen, indem wir uns so fühlen, als würde es uns selbst geschehen. Es sind Spiegelneuronen, die Bücher, Filme und Theater so erfolgreich machen… wir fühlen, was gezeigt wird, als ob es uns selbst zustößt, wir sind emotional wach und in Resonanz mit der erzählten Geschichte. Für viele Menschen, die einen Großteil ihres emotionalen Lebens unterdrückt haben, um ihr Trauma zu bewältigen, bedeutet die Fähigkeit mit einem Film oder einer Geschichte mitzuschwingen die Möglichkeit sich in sich selbst lebendiger zu fühlen, wenn auch nur für eine Weile.
Diese unzähligen Bahnen, auf denen wir in unserer Welt leben, sind jedoch auch diejenigen, durch die unser abgespaltenes Trauma wahrscheinlich wieder getriggert wird.
Was ist Retriggern von Trauma?
Genau wie oben angemerkt: es ist das sensorische, halb-bewusste und unbewusste Wahrnehmen unserer Welt, welches gleichzeitig die neuerliche Erfahrung unseres Traumas triggern kann. Das Potenzial unserer Traumata wieder stimuliert zu werden ist in jedem Moment unseres Lebens möglich, in jeder Begegnung mit anderen und geschieht überwiegend unbewusst.
Doch diese retriggernden Ereignisse werden meistens erfolgreich gehandhabt durch unsere Trauma-Überlebensstrategien, jenen vielen täglichen Strategien, die unser Überlebens-Ich entwickelt hat, um mit genau diesen Situationen umzugehen. Wir mögen diesen Vorgang nicht einmal bemerken; oder wir haben ausreichende Selbstwahrnehmung und -erkenntnis über unsere Überlebensstrategien entwickelt und sind in der Lage zu realisieren, dass wir uns im Überlebensmodus befinden. Wir können uns sogar selbst die Frage stellen: Was ist geschehen, dass ich in meine Überlebensstrategien geraten bin?
Gelegentlich jedoch kann das Retriggern ernster sein und für eine Weile können wir uns recht desorientiert, deprimiert, unruhig, emotional oder verstört fühlen, ohne den Grund dafür wirklich zu verstehen. Vielleicht sagen wir, wir haben einen schlechten Tag oder fühlen uns nicht ganz auf dem Posten oder sind niedergeschlagen. Dies ist eine stärkere Form von Retriggern, die für das Überlebens-Ich schwieriger zu kontrollieren ist. So lang die Überlebensstrategien das Trauma kontrollieren können und es aus dem Bewusstsein herauszuhalten vermögen, verbleibt es im Bereich von Retriggern. Wenn jedoch unser Überlebens-Anteil versagt, befinden wir uns in einer völligen Retraumatisierung.
Was ist also Retraumatisierung?
Wir kommen nun zum zentralen Teil dieses Blog-Artikels und zu einem Versuch einer Definition darüber, was genau Retraumatisierung ist. Es handelt sich um unser erstes (oben angesprochenes) Prinzip:
Retraumatisierung bedeutet, dass das “Überlebens-Ich“ darin versagt, die Grenzen aufrechtzuerhalten und das „Gesunde Ich“ davor zu schützen von den unverarbeiteten Trauma-Erfahrungen überwältigt zu werden.
In diesem Sinne ist es mehr als ein Retriggern des unverarbeiteten Traumas; es ist ein Retriggern, welches das Überlebens-Ich nicht kontrollieren kann, so dass es zu einer völligen Retraumatisierung kommt.
In einem solchen Fall gibt es zwei mögliche Folgen:
1. Im ersten Fall dissoziiert die Psyche und spaltet sich erneut in dem Versuch das Ereignis zu bearbeiten als sei es eine neue Traumatisierung, was zu weiteren Spaltungen der Psyche führt. Es ist wichtig an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass alle traumatischen Ereignisse nach dem Ursprungstrauma, neben der Belastung durch das aktuelle Trauma-Ereignis, immer eine Restimulation dieses Ursprungstraumas (höchstwahrscheinlich eines Identitätstraumas) bedeuten. Es ist diese erste traumatisierende Erfahrung, die unsere Fähigkeit beeinflusst mit späteren Situationen die als traumatisierend oder nicht-traumatisierend erlebt werden mögen, umzugehen.
2. Im zweiten Fall handelt es sich um ein komplettes Erleben der ursprünglichen Gefühle von Hilflosigkeit, Panik und anderen gekoppelten Gefühlen, die unterdrückt und ins Unbewusste abgespalten waren.
In diesem Fall gibt es zwei weitere Möglichkeiten:
1. Die Erfahrung ist eine Wiederholung der ursprünglichen Erfahrung, in welcher die Person den Kontakt mit der hier-und-jetzt Realität verliert und innerlich zum ursprünglichen Ereignis zurücktransportiert wird, als ob es jetzt geschehen würde, ohne jegliches Gefühl für Kontakt mit der Gegenwart. Dies ist eine nutzlose Wiederholung der Traumatisierung.
2. Die Person bleibt in Kontakt mit der hier-und-jetzt Realität und erlebt gleichzeitig die zuvor unterdrückten Emotionen. Dann kann das Erleben ein gesunder Ausdruck innerhalb einer sicheren und unterstützenden Umgebung sein. Ich betrachte dies als eine potenziell transformative und heilende Erfahrung.
In Möglichkeit 2 beziehe ich mich auf das Werk von Ernest Rossi, der eng mit Milton Erickson (Tradition der Hypno-Therapie) zusammenarbeitete. In den 1990ern las ich eins seiner Bücher, in dem er über zustandsabhängige Erinnerung (Cheek, David B. & Rossi, E., 1995) sprach.
Zustandsabhängige Erinnerung ist
„…das Phänomen, durch welches Erinnerungsrückgewinnung höchst wirksam wird, wenn die Person sich in demselben Bewusstseinszustand befindet wie zum Zeitpunkt des Erinnerungsentstehens.“ (Englisch Wikipedia)
Zustandsabhängige Erinnerung, so wie Rossi sie diskutierte (ich muss hinzufügen, nicht spezifisch auf das Thema Trauma bezogen) ist die Art und Weise, in welcher unser Erinnerungssystem einen sensorischen Schnappschuss der Situation erstellt, d. h. es fängt ein, was immer die momentane sensorische Erinnerung sein mag: Geruch, Bilder, Hören, Tastempfinden usw. Dies ist der Bewusstseinszustand des Ereignisses.
Dann geschieht es, dass später jeder einzelne oder eine Kombination dieser sensorischen Faktoren den Bewusstseinszustand des ursprünglichen Ereignisses restimulieren kann und somit die Erinnerung erneut triggert. Das ist Retriggern. Also könnten wir in einer Teil-Definition von Retraumatisierung sagen:
Retraumatisierung ist das zustandsabhängige Retriggern einer Erinnerung, die traumatisierend war.
Rossi sagt jedoch weiter, dass die restimulierte Erinnerung, anstatt eine reine Wiederholung der ursprünglichen Situation zu sein, zu einer heilsamen Erfahrung werden kann, wenn die Person sich einiger Dinge in der Gegenwart bewusst ist, die anders sind als im originalen Ereignis, und wenn sie sich sicher und unterstützt fühlt, d.h. durch die unterstützende Präsenz des Therapeuten.
Nach Rossi ersetzt dies den originalen Bewusstseinszustand durch einen neuen „verbesserten“ Bewusstseinszustand. Sollte dann die Erinnerung irgendwann in der Zukunft wieder getriggert werden, wird ein Teil des zustandsabhängigen Bewusstseins diese neue Erfahrungskomponente beinhalten. In neurologischer Hinsicht wird die Erfahrung des neuen Elementes neue neurologische Verknüpfungen schaffen und im Prozess der Neuroplastizität als neue aktualisierte Version bestehen.
Neuroplastizität: Die lebenslange Fähigkeit des Gehirns sich selbst zu reorganisieren, indem es neue neuronale Verknüpfungen schafft. Neuroplastizität erlaubt den Gehirn-Neuronen (Nervenzellen im Gehirn) Verletzungen und Krankheiten zu kompensieren und ihre Aktivitäten neuen Situationen oder Veränderungen in der Umgebung anzupassen. (Mehr: Wikipedia)
Aktuelle Haltungen zum Thema Retraumatisierung
Gegenwärtig existiert sehr viel Angst bezüglich des Themas, welche meiner Ansicht nach auf einem Mangel an Offenheit, Erforschung, Diskussion und guter Information beruht.
Die Tendenz geht nun dahin, denke ich, das Eintreten einer Retraumatisierung um jeden Preis zu vermeiden zu suchen; nach meinem Dafürhalten ein unrealistischer rigider Protektionismus, der zu der Sichtweise führt, einem guten Therapeuten/Begleiter passiert so etwas nicht /sollte so etwas nicht passieren.
Geschieht es dann doch, führt dies zu Kritik und Missbilligung dem Therapeuten gegenüber, verursacht Scham und mündet in einer Kultur von Geheimhaltung und größerem Mangel an offener Diskussion und Untersuchung des Themas usw.
Als erstes will ich allen Praktizierenden sagen: in Ihrer Praxis als Trauma-Therapeut ist es unvermeidlich, dass bei Menschen, seien es Klienten oder Repräsentanten, zustandsabhängige traumatische Erinnerungen restimuliert werden. Meistens geschieht dies eher in einer Form von Retriggern als in einer völligen Retraumatisierung. Damit können die Überlebensstrategien umgehen. Wenn wir mit Traumata arbeiten ist dies nach meiner Ansicht nicht zu vermeiden.
Wie oben angemerkt: wenn es ein Retriggern ist, kann die Person für gewöhnlich mit ihren eigenen Überlebensstrategien damit umgehen. Was ich im Folgenden beschreibe bezieht sich auf die Situation, in welcher die Überlebensstrategien der Person versagen und sie in eine vollständige und hilflose Retraumatisierung fällt.
Drei zu beachtende Fragen
Die drei entscheidenden Fragen, die sich ergeben sind:
- Wie erkennen wir, dass Retraumatisierung einsetzt?
- Wie können wir den Prozess sinnvoll und respektvoll unterbrechen?
- Falls die Person in eine vollständige Retraumatisierung fällt: was können wir tun, um dies in eine hilfreiche, sogar transformierende Erfahrung zu verwandeln, anstatt in eine nutzlose Erfahrung für die Person und für die Gruppe?
Wie wir erkennen, dass Retraumatisierung einsetzt
Ob die Person der Klient ist, ein Repräsentant oder ein Beobachter aus der Gruppe, das Erkennen wann Retraumatisierung beginnt, ist immer gleich. Ich werde jedoch zunächst etwas über die Situation des Repräsentanten sagen.
Die Repräsentanten-Erfahrung: aus unserer Erfahrung als Begleiter/Therapeuten, die mit der Anliegenmethode arbeiten (oder sogar aus vorheriger Erfahrung in der Arbeit mit Familienaufstellungen) wissen wir, dass Stellvertreter überraschend oft gewählt werden, um Elemente/Menschen zu repräsentieren, welche selbst in ihrer Vergangenheit ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Diese unvermeidbare Übereinstimmung ist aus meiner Sicht für die Arbeit nützlich, da sie höchst zufriedenstellend ist; es kann bedeuten, dass die Arbeit des Klienten gleichzeitig für Andere nützlich wird. Sie kann aber auch ein Weg in die Retraumatisierung sein.
Im Allgemeinen ist die Repräsentanten-Erfahrung eine Meta- oder simultane Resonanz-Erfahrung, wobei die Verbindung zu sich selbst intakt bleibt. Ich neige dazu anzunehmen, dass es in etwa eine 60%/40% Balance von Repräsentation zu aktueller Person (gesundes Ich) ist. Wenn sich aber der Stellvertreter in seiner Repräsentanz-Erfahrung soweit einlässt, dass er den Kontakt zu seinem gesunden Ich verliert, ist es möglich, dass durch die Repräsentanz das eigene Trauma retriggert wird.
Hauptpunkte, um das Einsetzen von Retraumatisierung zu erkennen:
- Körper schüttelt sich, Beine zittern, jede Art von Tremor: Dies sind primäre Warnzeichen und sichtbare Zeichen. Diese Anzeichen zeigen, dass der physische Körper unter extremen Stress gerät das Trauma zu halten, während es an die Oberfläche drängt.
- Panisches/dissoziiertes Aussehen, schnelle Atmung, leerer Blick in den Augen: Dies sind primäre Warnzeichen und sichtbare Zeichen. Die Person scheint offensichtlich den Kontakt mit dem gegenwärtigen Geschehen zu verlieren und in Panik zu geraten.
- Augen ständig geschlossen: Dies ist ein primäres Warnzeichen, kann jedoch verwirrend sein. Meine Frage an mich selbst als Begleiterin wäre: wo ist die Person in ihrer inneren Welt? Ist ihr der gegenwärtige Kontext bewusst oder wird sie zurücktransportiert zu einem früheren traumatisierenden Kontext? Manchmal schließen Personen die Augen, um mehr Kontakt mit ihrer Erfahrung zu bekommen. Das wäre keine retraumatisierende Situation. Aber wenn die Augen für eine lange Zeit geschlossen bleiben, und die Person anscheinend nicht viel Kontakt hat mit dem, was um sie herum geschieht, dann könnte dies der Beginn einer Retraumatisierung sein. Lösung: Sprechen Sie; sagen Sie den Namen der Person und bitten darum Sie anzusehen, so dass Sie sicher sein können, die Person weiß, wo sie ist. Ist die Person in Ordnung, wird sie es sagen, Sie ansehen und Sie werden den Kontakt fühlen; sollte die Person ihre Augen immer noch nicht öffnen, oder sie tut es, Sie jedoch empfinden den Kontakt als nicht passend (d.h. der Blick ist dissoziiert), dann können Sie die notwendigen Schritte angehen. (siehe unten)
- Ausdruck von starken Emotionen durch einen Repräsentanten: Erlebt die Person als Repräsentant starke Emotionen sollte Ihre Frage an sich selbst sein: sind dies tatsächlich Emotionen, die zum Klienten gehören oder verliert sich die Person in ihren eigenen Trauma-Emotionen? Lösung: Sagen Sie den Namen der Person und gehen Sie in Kontakt, dann wissen Sie Bescheid. In der gesamten Arbeit müssen meiner Ansicht nach Emotionen, die zum Klienten gehören, insbesondere starke Emotionen, irgendwann vom Klienten selbst durchlebt werden, nicht vom Repräsentanten. Sehr oft sehen wir in einer Stellvertretung, dass der Repräsentant mit starken Emotionen in Berührung kommt und dem Klienten die Existenz dieser Emotionen aufzeigt, aber in der Lage ist sie loszulassen, wenn er angesprochen wird. Wenn er jedoch wirklich beginnt, tiefe, starke Emotionen auszudrücken, wäre das der Zeitpunkt für eine Überprüfung.
- Ausdruck von starken Emotionen durch einen Klienten: Dies ist für gewöhnlich in Ordnung, und ist oft eine Entlastung und Befreiung für die Repräsentanten in der Arbeit, und vielleicht gehen sie zum Klienten und halten ihn, während er seine Gefühle zum Ausdruck bringt. Solange Sie überzeugt sind, dass der Klient weiß, wo er ist und sich des aktuellen unterstützenden Kontaktes und der Situation bewusst ist, sollte alles in Ordnung sein. Letztlich ist dies, worum es in unserer Arbeit geht: um den Ausdruck von lang unterdrückten Gefühlen. Bleiben Sie einfach aufmerksam und beobachten Sie, um sicher zu gehen, dass die Person weiterhin weiß, wo sie ist und sich der Personen um sie herum bewusst ist.
Repräsentanten, die reine Repräsentanten sind, können jederzeit eine Frage des Begleiters/Therapeuten beantworten. Sie sind auch in der Lage, angemessen leicht in die Rolle und aus der Rolle zu treten. Repräsentanten, denen dies nicht leichtfällt, sollte man bewusst im Auge behalten.
Wenn eine vollständige Retraumatisierung eintritt…
Was ist zu tun, wenn jemand hilflos in eine vollständige, potenziell nutzlose Retraumatisierung gerät?
Der generelle Ansatz besteht darin, sicher zu stellen, dass die Person in Kontakt bleibt mit der hier-und-jetzt Realität, personifiziert in der klaren unterstützenden Gegenwart des Therapeuten.
- Bleiben Sie in Ihrem gesunden Ich und werden Sie nicht panisch.
- Beenden Sie die Arbeit. Wenn der Klient psychologisch nicht anwesend ist (d.h. ausreichend inseinem gesunden Ich) ist es sinnlos die Arbeit fortzusetzen. In der Arbeit geht es darum, dass der Klient einen Gewinn hat; hat er dies nicht, ist die Arbeit nutzlos.
- Sprechen Sie mit einer klaren, ruhigen, alltäglichen Stimme. Sprechen Sie nicht zu leise oder mit einer sanften Stimme. Dies kann als hypnotisierend erlebt werden, und die Person befindet sich wahrscheinlich bereits in einem stark hypnotisierten und dissoziierten Zustand. Also sprechen Sie deutlich und in vernünftiger Lautstärke
- Sprechen Sie die Person mit ihrem Namen an und bitten Sie sie ihre Augen zu öffnen.
- Öffnet die Person ihre Augen, stellen Sie sicher, dass sie Sie sehen kann, dass Sie Kontakt mit ihr haben, dass sie weiß, wer Sie sind und dass Sie da sind. Sprechen Sie weiter klar und ruhig, bleiben Sie in Kontakt.
- Öffnet die Person ihre Augen nicht, sprechen Sie weiter zu ihr, bis sie die Augen öffnet. Die Person weiß, dass Sie da sind durch den Klang Ihrer Stimme, daher sprechen Sie ruhig weiter. Vielleicht fragen Sie, ob sie Sie hören kann. Jede Frage, die eine Antwort erfordert, wird der Person helfen, mehr mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Wir sind konditioniert Fragen zu beantworten!
- Wenn möglich, stehen Sie vor der Person, so dass sie, wenn sie die Augen öffnet, deutlich sehen kann, wer Sie sind und Sie nicht mit jemand anderem verwechselt; jedoch nicht so nah, dass Sie als eine Bedrohung erlebt werden oder für die Person nicht im Fokus stehen.
- Wenn es für Sie in Ordnung ist, berühren Sie die Person auf eine eindeutige Weise, vielleicht an der Schulter, oder nehmen Sie ihre Hand. Körperkontakt hilft der Person eine Verbindung mit dem hier-und-jetzt über ihren Körper aufrecht zu erhalten. Es könnte hilfreich sein anzukündigen, dass Sie die Hand der Person nehmen werden oder sie an der Schulter berühren werden, um sie in der Gegenwart zu verankern.
- Sprechen Sie weiter, bis Sie sicher sind, dass die Person weiß, wo sie ist. Versichern Sie ihr, dass Sie da sind und bleiben, bis sie vollkommen okay ist.
- In schweren Fällen, wenn die Augen geöffnet sind, aber keinen Kontakt aufnehmen, können Sie die Person bitten, ihre Umgebung zu beschreiben, Farben, Möbel, Menschen etc.
- Sie können auch vorschlagen, dass die Person ihre Atmung reguliert (insbesondere, wenn sie hyperventiliert... Panik Atmung – siehe unten)
- Sie können vorschlagen, dass die Person mit ihrem Körper Kontakt aufnimmt. "Fühlst du den Boden unter deinen Füßen?", "Fühlst du den Stuhl, auf dem du sitzt?", "Wie fühlt sich dein Körper an?", "Kannst du deine Hände/Füße/Beine spüren?"
- Sobald Sie sicher sind, dass Sie mit der Person in Kontakt sind, können Sie bei ihr bleiben, während sie die Trauma Gefühle erfährt und ausdrückt und, wenn es für Sie in Ordnung ist, die Person währenddessen halten. Sie können fragen, ob die Person gehalten werden will (eine weitere Frage, die eine Antwort erfordert).
- Der Ausdruck von Trauma geht mit starken Gefühlen einher und mag auch begleitet sein von körperlichem Schütteln und Zittern. Lassen Sie dies zu. Es ist durchaus sicher, vorausgesetzt Sie sind sicher, dass der Klient weiß, wo er ist und wer Sie sind, und dass Sie den Kontakt mit ihm halten können.
- Beschleunigen Sie den Prozess nicht; bleiben Sie bei der Person, bis Sie beide ganz sicher sind, dass sie wieder vollkommen in der Gegenwart ist und in einem guten Kontakt mit ihrem gesunden Ich.
- Lassen Sie der Gruppe genug Zeit, das zu tun oder das über das Geschehene zu sagen, was immer notwendig ist, um es zu verarbeiten.
In den meisten Situationen sind diese Strategien ausreichend, und hilfreich. Wie ein Klient in einer Gruppe zu mir sagte: "Diese Erfahrung war so anders, weil Du da warst. In der ursprünglichen Situation war niemand da." Das ist das up-grading der zustandsabhängigen Erinnerung.
Eine Anmerkung zu Hyperventilation:
Panik verursacht Hyperventilation: beschleunigte, gehetzte Atmung begleitet von rasendem Herzschlag; und die Symptome von Hyperventilation können die Person in immer stärkere Panikgefühle bringen, besonders dann, wenn sie nicht versteht was geschieht.
Das Wichtigste, was es über Hyperventilation zu verstehen gilt ist, dass, obwohl es sich anfühlt als reiche der Sauerstoff nicht – daher der Versuch die Atemfrequenz zu erhöhen – tatsächlich das Gegenteil der Fall ist. Es handelt sich um ein Symptom von zu viel Sauerstoff und zu wenig Kohlendioxyd. Nach einer Weile verursacht dies Schwindel und ein unangenehmes Gefühl von Taubheit in den Extremitäten (Hände und Füße). Es kann auch zu Brustschmerzen und anderen Symptomen führen. Sagt die Person, dass sie sich schwindelig fühlt oder andere ungewöhnliche physische Symptome hat, sagen Sie ihr einfach, dass sie hyperventiliert. Dies ist nicht gefährlich; schauen Sie, dass die Person ihren Atem kurz anhält und ihn dann reguliert, oder dass die Person tief in den Bauch atmet anstatt nur flach in den oberen Brustbereich (das ist Hyperventilieren). Unterstützen und ermutigen Sie die Person dabei weiter ihren Atem zu steuern bis er besser reguliert ist.
Psychose
Selten sind diese Strategien unzureichend und es lässt sich kein Weg finden, die Person in Kontakt mit der gegenwärtigen Realität zu halten. Dann besteht die Möglichkeit, dass die Person psychotisch wird, und dass Sie für weitergehende Hilfe sorgen müssen. Sprechen Sie weiter und versuchen Sie die Person so gut Sie vermögen in der Gegenwart zu verankern, während Sie auf Hilfe warten. In einer Gruppen-Situation könnten Sie fragen, ob jemand in der Gruppe Arzt ist oder eine andere formelle Hilfe bieten kann. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es Ihnen nicht gelingt, einen Kontakt mit der Person zu halten und vielleicht sogar mit ihr besprechen können, was die nächsten guten Schritte sein mögen.
In den fast zwanzig Jahren meiner Arbeit mit Aufstellungen und der Anliegen-Methode ist dies nur einmal passiert, und in der Situation hatte die Person bereits zuvor psychotische Episoden gelebt und wusste, was geschah. Er verstand die Anzeichen und wusste genau, was zu tun war. Er meldete sich ohne meine Hilfe bei einer ihm bekannten psychiatrischen Station, nachdem er mir gesagt hatte, dass er dies tun würde. Ich hielt angemessenen Kontakt mit den Ämtern und mit ihm als Rückversicherung für mich selbst und für ihn, dass ich auch während der psychiatrischen Behandlung weiterhin bewusst an ihn denke.
Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, dass Psychose in sich selbst ein Überlebensimpuls ist; und dass sogar in einem psychotischen Zustand noch ein gesundes Ich existiert, und es Ihnen gelingen kann, mit diesem in Kontakt zu kommen.
Warum könnte eine Retraumatisierung geschehen?
Letztendlich besteht für den Klienten der Zweck der Arbeit darin, seine nicht ausgedrückten Trauma-Gefühle in der sicheren und kontrollierten Arbeits-Umgebung auszudrücken. Selbstverständlich braucht es viele Schritte dahin zu kommen, und ein Großteil der Arbeit des Klienten wird darin bestehen, seine Überlebensstrategien zu erkennen und sich mit ihnen vertraut zu machen, wodurch er sein gesundes Ich stärkt und Zugang bekommt zu seiner wahren Geschichte und Biografie. Theoretisch können wir uns unserem traumatisierten Ich nicht sicher nähern, bis wir ausreichend in Verbindung sind mit unserem gestärkten gesunden Ich. Aber auf diesem Weg wird es immer Momente geben, in denen es dem Klienten gelingt, einige seiner Trauma-Gefühle auszudrücken. Dies ist ein gesunder Prozess.
Nach meinem Dafürhalten sind schwere Retraumatisierungen im Arbeitsumfeld wahrscheinlich immer auf einen Fehler oder eine falsche Handhabung durch den Begleiter zurückzuführen. Wir alle machen Fehler, und besonders während wir lernen als Begleiter zu arbeiten. Es ist eine paradoxe Situation: wir können nicht lernen ein kompetenter Begleiter zu sein, ohne praktische Erfahrung zu sammeln, und gleichzeitig müssen wir, während wir die praktische Erfahrung sammeln, Fehler machen! Es ist eine Binsenweisheit, dass wir aus Fehlern lernen; dass wir uns am besten an unsere Fehler erinnern und daran, was sie uns lehren.
Aus meiner Sicht gibt es mehrere Dinge, die der Begleiter tun könnte, die zu einer solch fehlerhaften Handhabung beitragen; aber anstatt diese aufzulisten, werde ich diejenigen Dinge anführen, von denen ich glaube, dass wir sie in unserer Arbeit einhalten müssen, da sie uns, unseren Klienten und Repräsentanten helfen im gesunden Ich zu bleiben:
- Bleiben Sie bewusst und weitestgehend in Ihrem gesunden Ich. Kennen Sie Ihre eigenen Überlebensstrategien und Trigger gut genug, um im entsprechenden Moment in der Lage zu sein zu wissen, dass Sie im Begriff sind Ihre gesunde Haltung zu verlieren. Wenn Sie in Ihrem Überlebens-Ich sind, brechen Sie die Arbeit ab. Auch Sie haben Schwächen und Rechte. Seien Sie ehrlich. Die Teilnehmer werden Sie für Ihre Ehrlichkeit und für Ihren Respekt für sich selbst und Ihre Grenzen respektieren.
- Bleiben Sie in Kontakt mit dem Klienten, immer. Lassen Sie sich nicht mehr in das verwickeln, was die Repräsentanten tun als in Ihre Verbindung mit dem Klienten. Dies ist eine klassische Situation, in welcher der Klient retraumatisiert werden könnte, wenn der Therapeut den Kontakt zum Klienten verliert und sich zu sehr mit den Stellvertretern beschäftigt.
- Behalten Sie gleichzeitig auch die Repräsentanten im Auge, nur für den Fall.
- Vertrauen Sie dem Klienten. Vertrauen Sie seinem gesunden Ich, aber vertrauen Sie ebenfalls seinem Überlebens-Ich und respektieren Sie es. Bedrängen Sie den Klienten nicht, wenn er ins Überlebens-Ich wechselt, sondern betrachten Sie dies als klare Botschaft, dass er an seine Grenzen kommt. Dies ist ein weiterer klassischer Fehler, der zu Retraumatisierung führen kann: wenn der Begleiter die Überlebensimpulse des Klienten ignoriert oder sich über diese hinwegsetzt.
- Lassen Sie die Arbeit nicht zu lange laufen, wenn es sich um eine offensichtliche Überlebens-Intention handelt. Im Laufe Ihres Lernens werden Sie solche Intentionen kennenlernen, deren Zweck mehr darin besteht zu verwirren und abzulenken als darin auf den Punkt zu kommen. Mit einer solchen Intention zu lange weiter zu arbeiten bedeutet auch gegen die Überlebensinstinkte des Klienten anzugehen. Ihre ablenkende und verwirrende Intention hat einen guten Grund.
- Bleiben Sie auf der sicheren Seite. Wenn Sie unsicher sind, dass ein Repräsentant sich womöglich zu tief einlässt, erinnern Sie ihn daran, dass er „nur ein Repräsentant“ ist. Es ist besser sicherzugehen.
- Wenn Sie sich aus irgendeinem Grund schämen, gehen Sie Ihre eigene, persönliche Arbeit an. Es gibt nichts, dessen man sich schämen muss. Wir alle machen Fehler, wir alle lernen und wir alle tun unser Bestes.
Ich bitte um Beiträge unter der Rubrik Kommentar. Ich habe alles aufgeschrieben, was mir momentan zu diesem Thema einfällt, aber ich bin ziemlich sicher, da gibt es weit mehr.
REFERENZEN
Broughton, V. (2016). Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung. Kösel Verlag
Broughton, V. (2013). The Heart of Things: Understanding Trauma – Working with Constellations. Green Balloon Publishing, Steyning, UK.
Cheek, David B. & Rossi, E. (1995) Mind-Body Therapy: Methods of Ideodynamic healing in Hypnosis
Lewis, T., Amini, F. & Lannon, R. (2001). A General Theory of Love. Vintage Books, New York.
Rizzolatti, G. & Craighero, L. (2004). The Mirror-Neuron System, in Annual Review of Neuroscience, 27.
Ruppert, F. Trauma, Angst und Liebe: Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit. Wie Aufstellungen dabei helfen. Kösel Verlag
Siegel, D. J., (2010). The Mindful Therapist: A Clinician’s Guide to Mindsight and Neural Integration. Norton Publishing, New York.
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Ute (Monday, 03 May 2021 14:49)
Danke,
ich grüße Sie mit herzlichem Dank.
Ich bin Betroffene und finde durch Ihre Darstellung schrittweise Einblick und Orientierung.
Im privaten Raum habe ich am Vortag eine Retraumatisierung durchlaufen. Und wünsche mir, diesem einen Sinn und Gewinn zu geben. Ich bin in Behandlung und wünsche mir zunehmend Autonomie.
Herzliche Grüße!
Ute.
Iris (Tuesday, 03 August 2021 18:07)
vielen herzlichen Dank für Ihre Bescheibung. Ich habe soeben eine Retraumatisierung erlebt und Ihre klaren Worte und Symbole helfen mir, jetzt weder davonzulaufen noch mich zu zurück zu ziehen. Aber ich weiß, dass ich wieder einen Therapeuten aufsuchen muss. Denn alleine kann ich dem Ganzen keinen Sinn oder Gewinn geben.
Vivian Broughton (Wednesday, 04 August 2021 12:06)
Dear Iris, yes, take courage and carry on with your explorations!
best wishes
Vivian
Claudia Leppert (Friday, 21 January 2022 10:59)
Vielen Dank für die gute Erläuterung , war sehr gut zu lesen und zu verstehen.
Sehr hilfreich dazu ist bei der Arbeit mit Kindern auch die Trauma-Arbeit von Maggie Kline, welche Schülerin der somatic experience Arbeit von Peter Levine war und ihr Wissen als weltweites Movement sehr gerne weitergibt.
Herzliche Grüße
Claudia