Trauma, Bewusstsein & die “Banalität des Bösen“
13. Februar 2017
Hanna Arendt prägte den Begriff “Banalität des Bösen” als sie 1961 als Reporterin beim Prozess gegen Adolf Eichmann für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Israel tätig war.
Man hielt Eichmann für einen der führenden Köpfe des Holocaust.
Im Januar 2017 erreichte Arends Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, erstmals erschienen 1951, die Top 20 aktuellen Buchbestsellerliste (mit George Orwells '1984' auf Platz 1) und stand damit direkt unter der US-Verfassung, die in letzter Zeit ebenfalls eine große Leserschaft gewonnen hat. Und wir wissen alle, warum das so ist. (Da dieses Datum in der Vergangenheit liegt, hier zur Erinnerung: Es war die Zeit der Amtseinführung von Donald Trump als Präsident der USA. Es herrschte Panik darüber wie Trump als Präsident sein würde.)
Arendt prägte den Begriff “Banalität des Bösen” aus ihrer Beobachtung von Eichmann während seines Prozesses und aus ihrer Erkenntnis heraus, dass er, anstatt böse und außergewöhnlich intelligent zu sein, ihrer Ansicht nach tatsächlich recht dumm und unreflektiert war. Für Arendt repräsentierte die Bezeichnung “Banalität des Bösen” das Phänomen derer, die nicht denken, sondern unbedacht lediglich Befehlen gehorchen:
"Arendt war nicht einverstanden mit der Auffassung, dass Eichmann ein grausames Monster sei. Sie war entsetzt festzustellen, dass er einfach nur ein Mann war, der Anweisungen befolgte und sein Verhalten rechtfertigte, indem er sich, um sein Handeln zu erklären auf Immanuel Kants Definition von Pflicht berief; ein gesetzestreuer Bürger in einem Land zu sein, in welchem die Moral und das Gesetz in der Person und den Befehlen von Adolf Hitler liegen.“ (International Business Times)
Für sie war die Banalität des sogenannten “Bösen” verbunden mit oberflächlichem Denken, nicht geboren aus einem tiefen philosophischen Denken heraus oder aus Prinzipien, welche wir „böse“ nennen könnten, sondern einfach nur aus dem Befolgen dessen, was uns aufgetragen wird; eine Art Nicht-Nachdenken über das Leben und über sich selbst in diesem Leben. Die Banalität ist in der Tat das nicht überprüfte Leben; nach IoPT-Verständnis ein Mangel an Autonomie und gesunder Selbstreflexion, stattdessen eine Identifikation mit den Gedanken und Taten anderer. (siehe Postskriptum)
Arendt definiert den totalitären Staat im Gegensatz zu Demokratie oder zu einem autoritären Staat oder zu einer Diktatur als gegründet auf einer Bewegung, einer Vorherrschaft der Massen durch Propaganda, „fake news“ , Programmierungen und Manipulationen, die mit der Apathie der Menschen, mit ihrer Angst und ihrem Gefühl von Hilflosigkeit spielen. Die proklamierten Programme einer solchen Bewegung sind nicht worum es geht, da Programme, wenn sie einmal ihr Ziel erreicht haben, ein Vakuum hervorrufen. Bewegungen aber bewegen sich und können im Laufe der Zeit aus nicht sichtbaren und nicht-öffentlichen Gründen kontrolliert und manipuliert werden. Mehr über Totalitarismus gibt es hier.
Täterschaft
Als ich darüber nachdachte, fiel mir der Begriff „Banalität der Täterschaft“ ein. Durch unser Verständnis von Trauma, wie es in Rupperts Identitäts-orientierter Psychotrauma-Therapie erläutert wird, wissen wir, dass Täterschaft, neben dem traumatisierenden Effekt auf den Täter selbst, vor allem eine Tat des Trauma-Überlebens-Ichs ist.
In der psychologischen Spaltung, die stattfindet, wenn eine Person eine traumatische Erfahrung macht, verbleibt dieser Person ein aktives Trauma-Überlebens-Ich, welches unzählige Strategien der Ablenkung und Vermeidung vom ungelösten Trauma entwickelt. Viele dieser Aktivitäten werden zu Übergriffen auf andere und auf das Selbst (denken Sie an das Konzept des „inneren Tyrannen“, der uns zum Täter an uns selbst werden lässt, damit wir nicht mit unverarbeiteten Trauma-Gefühlen in Berührung kommen.) Die Stärkeren werden zu Tätern an den Schwächeren, um ihren eigenen Schmerz nicht zu fühlen und zwingen stattdessen die andere Person den Schmerz zu fühlen.
Unser Verständnis von Trauma sagt also, dass jegliche Form von Schädigung anderer, Täterschaft, letztendlich den Zweck verfolgt, das eigene Trauma zu vermeiden. Diese Tatsache hat enorme Bedeutung für uns persönlich, gesellschaftlich und politisch: Was bedeutet dies tatsächlich und was bleibt vom Konzept des „Bösen“?
Aus meiner eigenen Erfahrung als Trauma-Therapeutin, und aus persönlicher Erfahrung, ist das Überlebens-Ich in uns reaktiv und unreflektiert; es hat nur eine Mission, und das ist die Vermeidung von unverarbeitetem Schmerz und Leiden aus früherem Trauma.
Für das Trauma-Überlebens-Ich gibt es keinen anderen Zweck als diesen, und daher gibt es keinerlei Möglichkeit von tiefem Denken, wenn man aus diesem Anteil heraus funktioniert; es ist eine Überlebensstrategie und niemals ein Agieren unseres gesunden Ichs. Nur wenn wir in unserem gesunden Ich sind, können wir uns und unser Leben tiefgründig reflektieren.
Arendt sagte offensichtlich, dass das „Böse“ keine Tiefe hat, wohingegen das „Gute“ enorme Tiefe hat:
Das „Böse“ hat keine Tiefe. Was Arendt meint, ist, dass es keine intellektuelle, charakterliche, emotionale und philosophische Tiefe hat. Wohingegen „Gut” Entscheidungen erfordert durch Denken, philosophische Moral und emotionales Engagement, welche aus gründlicher Abwägung der miteinander verknüpften Themen entstehen. „Gut“ erfordert persönliches Verständnis von richtig und falsch und den Willen entsprechend zu handeln. „Gut“ erfordert Wollen und Autonomie; „Gut“ kann deshalb nur aus dem „gesunden Ich“ kommen.
Daher der Gebrauch des Begriffes “Banalität”. Somit könnten wir sagen, dass es „das Böse“ an sich nicht gibt; es gibt lediglich Handlungen, die wir „böse“ nennen mögen, und diese sind immer Täterhandlungen, die mit dem Überleben von Trauma zusammenhängen. Dies ist ein Denkansatz, der eine erschütternde Veränderung darstellt. Wir können nun „Übeltäter” nicht mehr als schlichtweg böse abtun; von nun an sind wir aufgefordert die zugrundeliegenden Trauma-Dynamiken zu verstehen.
Viele Menschen haben Arendts Gebrauch des Wortes “Banalität” missverstanden im Sinne von “gewöhnlich” oder “normal” (u. a.); das war jedoch nicht ihr Verständnis des Wortes. Was sie meinte, war der Mangel an Tiefe, der Mangel an Charakter und selbstreflektiertem Denken, wortwörtlich banal, ohne Interesse oder Charakter.
Autonomie
Autonomie ist in unserem IoPT-Denken ein wichtiger Teil, weil die traumatisierte Person den dauerhaften Zugang zu ihrer Autonomie verloren hat. Wenn wir aus unserem gesunden Anteil handeln, gibt es ein gewisses Maß an Autonomie, aber diese ist eine zerbrechliche Geisel im Augenblick des retriggerten Traumas, - etwas, das täglich vielfach geschehen kann. Dann befinden wir uns in unserem Überlebens-Ich, ohne die Unterscheidungsfähigkeit unserer Selbstreflexion.
Die plötzliche, unbewusste „Übernahme” durch das Trauma-Überlebens-Ich ist ein Verlust von Autonomie. Für die meisten von uns geht der Mangel an Autonomie direkt zurück zu einem Identitäts-Trauma, welches nach meiner Erfahrung aus der Arbeit mit Klienten, am häufigsten vorgeburtlich geschieht, während der Entstehung der Beziehung von Mutter und Baby. Wird das Kind unterstützt und ist es ihm in seiner ersten Beziehung erlaubt, ein Individuum mit eigenen Rechten zu sein? Ist ihm erlaubt, eine eigene Identität zu haben, oder muss es seine Autonomie und seine einzigartige Identität aufgeben, um sich mit den Wünschen und Bedürfnissen seiner Mutter in Einklang zu bringen? Dieses Aufgeben-müssen seiner „gesunden Autonomie“, um sich dem Willen der Mutter anzupassen, weil das Kind vollkommen von ihr abhängig ist, ist ein Identitäts-Trauma.
Wir können jedoch nur aus unserer Autonomie heraus uns und unser Leben untersuchen, Entscheidungen treffen, die wahrhaftig unsere sind, und nicht ohnmächtig den Manipulationen und der Propaganda anderer unterliegen.
Bewusstsein
In Franz Rupperts Buch Trauma, Angst und Liebe beschreibt er in den ersten Kapiteln, was genau die Psyche ist; angefangen vom materiellen Aspekt der Psyche (Fleisch und Blut des gesamten Hirnsystems), über den energetischen Aspekt (der in psychologischer Aktivität involvierten Energie) bis hin zum Aspekt der Information (genetische Information und die Verarbeitung lebenslang erfasster und gespeicherter Erfahrungen und Informationen). Er erwähnt außerdem, dass Bewusstsein Einsatz erfordert.
Bewusstsein existiert in allen Spezies, soweit es für deren Überleben nötig ist. Alle Spezies sind bewusst, aber für die meisten ist dies reduziert auf die grundlegenden Überlebens-Bedürfnisse: Sicherheit, Verteidigung des eigenen Territoriums, Finden von Nahrung und Fortpflanzung zum Erhalt der Spezies. Darüber hinaus ist komplexeres Bewusstsein für die meisten Arten nicht notwendig.
Manche Spezies jedoch entwickelt größeres Bewusstsein; zum Beispiel wissen wir nun, dass Elefanten Erinnerungserfahrungen in Bezug auf andere machen, und dass sie trauern, wenn die Herde ein Mitglied verliert.
Bewusstsein vergrößert sich und entwickelt sich in Relation zu Herausforderungen durch Umwelt und Evolution, und soweit wir momentan wissen, verfügt der Mensch über die am meisten entwickelte und komplexeste Bewusstseinsform. Unser Bewusstsein ist über Jahrtausende enorm gewachsen; es bewegt sich besonders dramatisch, wenn wir massiven Änderungen in unserer Umwelt ausgesetzt sind, durch Neuerungen oder andere menschliche Entwicklungen, die von unserem Bewusstsein verlangen, dass es wächst. Zum Beispiel erforderte die industrielle Revolution eine massive Bewusstseinsänderung, da wir überdenken mussten, wer wir sind, als es erforderlich war vom Leben in ländlicher Gemeinschaft in eine Stadt umzuziehen, um für die grundlegenden Bedürfnisse wie Essen, Einkommen etc. zu sorgen. Im Zeitalter der Technologie, welches ich miterlebt habe, bewegte sich aufgrund der Macht der Realität mein Bewusstsein in den 1960ern von dem aufregenden Gedanken ein Telefon im Schlafzimmer zu haben (anstatt nur eins im Flur) zu einem Bewusstsein, welches nun das Handy ständig bei sich hat und kaum jemals eine Autofahrt von zu Hause aus startet, ohne das GPS zu konsultieren.
"Bewusstsein braucht Zeit und Mühe, weshalb Gehirnforscher derzeit behaupten, dass Bewusstsein im Bereich des psychologischen Verhaltens eher die Ausnahme als die Regel ist. (Roth, 2001; Singer, 2002)." Ruppert, Trauma, Angst & Liebe, 2014.
Anders als die oben beschriebene, von äußeren Entwicklungen erzwungene Bewusstseinsänderung, braucht Selbst-Bewusstsein Mühe und Zeit und, wie Ruppert weiterhin feststellt, Wollen; weil Bewusstseins-Entwicklung größtenteils eine Entscheidung darstellt, die einen Willen erfordert. Ich sage „größtenteils“, weil die meisten Menschen sich nur unter dem Druck eines unbefriedigenden Lebens und ausgerichtet auf ein Ziel mit Selbst-Erforschung wie Psychotherapie auseinandersetzen: zur Linderung von emotionalem Schmerz, und viele Menschen machen diesen Schritt nicht. Sie ertragen ihr Leid und ziehen sich weiter in reaktive Überlebensimpulse zurück.
Die Entwicklung von Bewusstsein, das Untersuchen des Selbst und des eigenen Lebens ist nicht etwas, was jeder tut, und in Bezug auf Arendts Wahrnehmung von Eichmann, war er ein Mann, der ein Identitätstrauma erlitten hatte und die Überlebensstrategie besteht in der Identifikation mit den Bedürfnissen und Wünschen anderer, im Falle Eichmann mit denen von Hitler; er hat nicht den Schritt der Bewusstwerdung gemacht, und nach Arendt, blieb er ein nicht-untersuchtes Selbst.
Einer der Gründe, warum Machthabende auf Gefangennahme oder auf andere Formen von Kontrolle, sogar auf Tötung der Intelligenzia eines Landes zurückgreifen, liegt darin, dass diese Menschen sich mit Selbst- und Lebens-Erforschung beschäftigen, die in ihrer gesunden Fähigkeit mündet, zu kritisieren und an Veränderung zu arbeiten. Als solche sind sie eine Bedrohung für diejenigen, die Menschen kontrollieren wollen. Der Erfolg von Demokratie hängt, denke ich, von einer Umgebung ab, die zu wachsendem Bewusstsein ermutigt und es fördert. Tyrannei und Diktatur sind angewiesen auf Menschen, die sich nicht erforschen oder ihr Bewusstsein nicht entwickeln.
Wir könnten sagen, dass erfolgreiche Demokratie abhängig ist von der Erforschung des eigenen Traumas und der Stärkung der gesunden und autonomen Fähigkeiten, wohingegen Diktatur und autoritäre Regimes, insbesondere totalitäre, sich so verhalten müssen, dass die Menschen im Überlebensmodus bleiben, damit sie abgehalten werden von Selbst-Erforschung und wachsendem Bewusstsein.
Über Trauma Bescheid zu wissen ist entscheidend, dann kommt der Wille, das Thema anzugehen; andernfalls bleibt man reaktiv und eine Geisel.
Ein Postskriptum zu Arendt
Seinerzeit bewirkte Arendts Auffassung, dass Eichmann kein Monster war, sondern ein gewöhnlicher Mann, der nichts dachte, außer sich strikt an die ihm aufgegebenen Regeln und Befehle zu halten, Entrüstung und Beschuldigungen gegen Arendt, sie wäre eine Nazi Sympathisantin und eine Feindin des jüdischen Volkes. Im Allgemeinen verstanden die Menschen ihre Aussage so, als spräche sie Eichmann von seiner Schuld frei. Das war jedoch nicht der Fall. Sie sagte ganz klar, dass Eichmann Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatte, aber ihre Analyse von Eichmann besagte, dass er kein kalkulierender, absichtlich monströser Krimineller war; sein Verbrechen bestand im Nicht-Denken, darin kein eigenes Anliegen zu haben, sondern einfach Befehlen zu gehorchen; effektiv war er so eine Nicht-Person, ein Niemand. Das ist die entsetzliche Banalität solcher Täterschaft; die Täterschaft einer Person ohne Identität.
Referenz:
Ruppert, F. (2014). Trauma, Angst und Liebe, Kösel Verlag
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A.A. (Sunday, 03 April 2022 19:17)
Danke, sehr lehrreich.